Nieder-Bessingen

Unser Dorf

Der Ausflügler, der seine Reiseroute zum Vogelsberg über Lich und Laubach plant hat, der erreicht, nachdem er das Städtchen Lich durchfahren hat, nach einigen Minuten Fahrt das Dorf Nieder-Bessingen. Ein paar alte Alleebäume bei der ehemaligen Schule empfangen den Reisenden, Sie sind die Reste einer langen Allee von Linden- und Ahornbäumen entlang der Straße Lich – Nieder-Bessingen. Sie ist im Ortsbereich mit Bürgersteigen versehen. Häusern, denen man trotz modernem Verputz ein gewisses Alter ansieht, säumen diese Ortsdurchfahrt.
Am östlichen Ortsaufgang stehen neue Häuser als Zeichen für Erweiterung des Dorfes und den Fleiß seiner Bewohner.
Ein Dörfchen, wie wir es in der heutigen Zeit für ganz selbstverständlich halten. Als nichts Besonderes!

Ganz anders präsentiert sich Nieder-Bessingen für denjenigen, der von Süden aus den Nachbardörfern Nonnenroth oder Langsdorf kommt. Sobald fürstlicher und Licher Stadtwald den Blick auf den Wiesengrund entlang der Wetter freigeben, sieht man sich dem Wahrzeichen von Nieder-Bessingen gegenüber. Etwas trotzig steht auf der anderen Seite des Wettertales die Kirche. – Wie aus dem Bilderbuch? –

Hat man bei dem Hofgut Mühlsachsen die Wetter überquert, so erblickt man den ganzen südlichen Teil des Dorfes. Links von der Straße, etwas abseits, entdeckt man einen Gebäudekomplex, das Dorfgemeinschaftshaus von Nieder-Bessingen. Als wäre die Straße durch den Wiesengrund die Trennungslinie für die alte und die neue Zeit, so steht dieses Gemeinschaftshaus in respektvoller Entfernung von der alten Kirche, als Wahrzeichen für die heutige Zeit.

Aber blicken wir zurück in die Zeit, bevor all das Geschilderte entstand.

Das Gebiet der Gemarkung Nieder-Bessingen ist uraltes Siedlungsgebiet. Zahlreiche Funde aus der Steinzeit legen Zeugnis dafür ab. In jahrzehntelanger Arbeit und mit viel Passion hat Hermann Pein, Nieder-Bessingen, erfolgreich auf diesem Gebiet gewirkt. Seine zur wissenschaftlichen Auswertung weitergegebenen Funde und seine reichhaltige Privatsammlung beweisen, daß schon vor 80-100.000 Jahren Menschen hier gelebt haben.

Grabhügel aus der Bronzezeit und Ablagerungen von Eisenschlacken der Eisengewinnung zeigen auf, daß auch in späteren Zeiten Menschen hier tätig waren. Nieder-Bessingen, weithin bekannt durch seine Gurkenzucht, ist alter Siedlungsboden. Unter dem Namen Bessingestat wird im 9. Jahrhundert die Gemeinde erstmals urkundlich erwähnt.
Diese Siedlung gruppierte sich um die Wehrkirche und den Nassauer Hof.

In Nieder-Bessingen bildet, wie in vielen Wetteraudörfern, Kirche und Kirchhof eine Ecke der Befestigung. So ist auch der Charakter der evangelischen Kirche von Nieder-Bessingen zu erklären.
Der Kirchturm ist dreigeschossig und hat einen ausgekargten Wehrgang. Über der Tür findet man eine Heiligennische aus vorreformatorischer Zeit. Das oberste Geschoß war einstmals das Verteidigungsgeschoß und nahm gleichzeitig den Glockenstuhl auf.

An der Westseite findet sich ein Gußerker zum Ausgießen von heißem Pech und Öl. Aus den Mitten des Wehrganggeschosses ragen Wasserspeier. Der Turm erhält sein besonderes Gepräge durch die Zunftzeichen, die an der Eckquaderung heute noch erkennbar sind. – Zünfte waren Vereinigungen von Handwerkern, die die Kontrolle über ihren Handwerkszweig ausübten und vor allem das Produzenteninteresse vertraten.
Man verband sich zu größeren Gruppen, sogenannten Zunftverbänden. Solche gab es im Wettertal beispielsweise für Weber, Schuhmacher, Schreiner, Wagner und Schmiede.
Diese Handwerker haben ihr Zunftzeichen auf Schildern an den Turm angebracht. Über der Bildnische erkennt man zwei Schilde, auf einem die Schere, dem anderen dem Pflug; an der nördlichen Eckquaderung der Westseite Schere und Tuch, Löwe auf liegendem Schild, Hammer, Hufeisen und Winkel auf stehendem Schild, an der südlichen Eckquaderung der Westseite den Ochsenkopf, Hackklotz, Hammer und Doppelaxt auf kreisförmigem Schild, an der westlichen Eckquaderung der Südseite Webeschiffchen oder Brot, Wagenrad, an der nordwestlichen Ecke des Schiffes Wollschere.
Diese Zunftzeichen heben den Turm, der ein alter Wehrturm war, als besonderes Kulturdenkmal unter vielen heraus.
Das Langhaus wurde 1735 bis 1742 neu gebaut und erhielt eine barocke Ausstattung mit Empore, Stuckdecke, Kanzel und Pfarrstand, letzteres besonders reich gearbeitet.
Die Bernhard-Orgel kam um 1830 in die Kirche.

Aus einem Buch der Stadt Hungen von Pfarrer Küther kann man die Behandlung des Dorfes Nieder-Bessingen während des Dreißigjährigen Krieges entnehmen.
Dieses Amtsprotokoll meldet, daß am 27. Oktober 1621, 80 Pferde unter Rittmeister Oppermont und 80 Musketiere von Kaptain Esch Compagnie zu Friedberg-Hungen vorbei nach Bessingen gezogen sind, um das Dorf in Grund zu plündern und große Beuten zu machen. Es wurde alles zertrümmert, zerschlagen, die Kirche aufgebrochen und alles zerrissen.

Auch die Pest hat während des Dreißigjährigen Krieges in unserem kleinen Dörfchen viele Menschenleben gefordert.
Trotz all dieser Rückschläge mußte das Leben weitergehen.
Wie bereits erwähnt, ist Nieder-Bessingen bekannt durch seine Gurkenzucht. Um 1835 wurden bereits Gurken angebaut. Sie wurden mit Pferd und Wagen nach Grünberg (später – vor dem 1. Weltkrieg – nach Gießen) auf den Markt gefahren.

Viele Leute, die von ihrer eigenen kleinen Landwirtschaft nicht leben konnten, suchten sich eine Nebenbeschäftigung.
Der Anbau von Flachs und dessen Verarbeitung brachte einige Mittel auf, um das Leben zu meistern.
Einige Familien befaßten sich mit der Zucht und dem Verkauf von Blutegeln. Auch wurden Schweineborsten aufgekauft und gekämmt Im Winter gab es Arbeit im Wald.

Die Gemeinde Nieder-Bessingen gehörte zum Fürstentum Solms-Braunfels. Es ist überliefert, daß die Einwohner mit ihrer Herrschaft nicht immer einer Meinung waren. – Es wurde mehr abgefordert als gebracht werden konnte.

Auf der alten Straße zogen napoleonische Truppen gegen Osten und nach ihren Niederlagen den gleichen Weg zurück. In verschiedenen Teilen der Gemarkung wurden noch Reste dieser Straße durch die heutigen schweren landwirtschaftlichen Bearbeitungsgeräte zu Tage gefördert.

Ein Mittelpunkt des Dortes der damaligen Zeit war das alte Backhaus, das an der Kreuzung stand. Dort wurde Brot und Blazz gebacken.
Blazz ist heut noch eine Bessinger Spezialität.
Aus diesem Grunde werden die Bessinger auch die Blazzbäcker genannt.

Ein weiterer markanter Punkt ist der Lindenplatz. Eine 137jährige Linde schmückt diesen Teil des Ortes. Dieser Baum wurde im Jahre 1871 als Friedenslinde gepflanzt. – Im Sommer bietet eine Bank so manchem müden Wanderer einen willkommenen schattigen Ruheort.
Der Gesang und das gesellige Beisammensein wurde in dieser Zeit nur in der Spinnstube gepflegt. Von alten Ortseinwohnern wird berichtet, daß an Himmelfahrt die Gemeinde ein Waldfest gefeiert hat. Bekannt bei solchen Waldfesten waren die aus Nieder-Bessingen stammenden Köhler-Schwestern, die damals zu viert dreistimmig sangen.

Die Zeit, die sich hieran anschließt, ist die viel gerühmte gute alte Zeit. Dieser guten alten Zeit wurde nach dem 1. Weltkrieg ein Ende gesetzt. Viele Einwohner von Nieder-Bessingen mußten im 1. Weltkrieg ihr Leben lassen. Unser Dort zählte noch 330 Einwohner.

Das Hauptverkehrsmittel für Personenbeförderung und Versorgungsgüter war die Butzbach-Licher-Eisenbahn. Viele Einwohner gingen bereits einer Beschäftigung in dem Städtchen Lich nach.

Ein alter Ortseinwohner war dieser Zeit voraus, indem er das nachstehende Gedicht verfaßte:
Auf des Ockelsberges Spitze, wird ein Aussichtsturm gebaut, daß man in der Sommerhitze, sich die schöne Wetterau beschaut.

Aus der Stadt zieht’s viele fort, Bessingen wird bald Luftkurort.

Straßenbähnchen(Busse) wird es geben, Trottoir und elektrisch Licht und im Dort ist’s schöner leben, Bessinger ihr ahnt es nicht.

Findet Arbeit ihr in Lich und Gießen ohne langen Fußmarsch und wunden Füßen

 

denn


um 5 Uhr fährt alles per Rädchen nach Haus, so sieht es im nächsten Jahrhundert aus.

Johannes Weiß

Genau wie im 1 Weltkrieg hat auch der 2. Weltkrieg seine Opfer gefordert. Die Nachkriegszeit war von Not gezeichnet. Durch die Folgen des Krieges mußten viele Ihre Heimat verlassen.
In Nieder-Bessingen fanden, genau wie in den umliegenden Dörfern, viele Vertriebene eine neue Heimat.

Der 2. Weltkrieg hat auch hier wie überall eine starke Strukturumwandlung geschaffen.

Nieder-Bessingen ist mehr und mehr eine Wohnsitzgemeinde für Pendelarbeiter geworden, die in den industriellen Betrieben der Umgebung (Lich und Gießen) ihrem Beruf nachgehen.

Der kulturelle Mittelpunkt des Ortes ist das im Jahre 1960 erbaute Dorfgemeinschaftshaus. Hier werden Familienereignisse wie Hochzeiten und Vereinsfeiern gefeiert.

Die wöchentlich stattfindende Singstunde wird ebenfalls im Dorfgemeinschaftshaus abgehalten.

Neben dem Dorfgemeinschaftshaus wurden in den letzten Jahren andere Maßnahmen wie der Ausbau der zentralen Wasserversorgung, die Kanalisation, ein Wasserhochbehälter, das Feuerwehrgerätehaus, ein Kinderspielplatz, der Ausbau der ehemaligen Schule in einen Kindergarten, Erschließung von Bauland sowie der Bau einer Leichenhalle und die Erschließung von einem Wochenendgebiet geschaffen.

Nieder-Bessingen ist seit 1. 1. 1971 Stadtteil von Lich.

Insgesamt gibt eine Betrachtung des heutigen Dorflebens ein Bild davon, wie sehr sich alles gewandelt hat. Die früher vorhandene Gemütlichkeit kennt man nur noch vom Hörensagen. Auch das dörfliche Tempo, ganz gleich welcher Arbeit man nachgeht, wird von den Maschinen bestimmt. Man denke nur an den heutigen Verkehr.

Man mag sich manchmal die Ruhe und Abgeschiedenheit einer kleinen Landgemeinde herbeiwünschen, sie sind endgültig vorbei!

Aber die Nieder-Bessinger werden trotzdem Nieder-Bessinger bleiben.

Die Dorfchronik wurde von einigen aktiven Mitgliedern
des gemischten Chores anläßlich der 50 Jahr-Feier
im Jahre 1979 zusammengestellt.
 

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